Was sind Formgedächtnislegierungen?

Legierungen auf Basis der Formgedächtnistechnik sind metallische Werkstoffe, die sich nach einer scheinbar plastischen Verformung wieder an ihre Ursprungsgestalt zurückerinnern können. Weit verbreitet sind auch die Begriffe Memory-Metall, Formgedächtnismetall oder sogar Formgedächtnismetall-Legierung. Diese sind streng genommen aber nicht richtig, da es sich bei den Formgedächtniswerkstoffen um Legierungen und nicht um reine Metalle handelt. Relevanz in der Formgedächtnistechnik erreichen insbesondere die Legierungen auf Basis von Nickel und Titan (NiTi, Nitinol). Aufgrund der funktionellen Eigenschaften eignen sich Formgedächtnislegierungen hervorragend für Anwendungen in der Aktorik, aber auch für Bauteile,

die eine große reversible Verformung aufweisen müssen (z.B. Führungsdrähte oder Katheter in der Medizintechnik). Hier können reversible Dehnungen zwischen 6-8% erreicht werden. An dieser Stelle sollten wir einmal die Technologie hinter der Formgedächtnislegierung betrachten, was genau steckt dahinter? Die Ursache für dieses Verhalten ist eine Festkörperphasenumwandlung im Metall zwischen zwei Kristallstrukturen, die mit Martensit (Tieftemperaturphase) und Austenit (Hochtemperaturphase) bezeichnet werden. Je nach Legierungszusammensetzung, Umgebungstemperatur und Beanspruchungszustand können unterschiedliche Effekte auftreten, die für technische Systeme auf 

unterschiedliche Weise intelligent genutzt werden können. FGL-Federn können beispielsweise Ventile automatisch öffnen oder schließen, wenn die Temperatur des Umgebungsmediums (Luft, Wasser, Öl) einen bestimmten Wert, die Austenit-Start-Temperatur, überschreitet. Zugdrähte können moderate Stellwege bei sehr großen Stellkräften realisieren. Sie eignen sich unter bestimmten Umständen (Drahtdurchmesser < 1,2-1,4mm) dafür, dass die Erwärmung mit speziellen Ansteuerungselektroniken direkt über den Ohmschen Widerstand des Drahtes erfolgt.

Nitinol: Formgedächtnislegierungen aus Nickel-Titan

Auf dem Markt wird der Handelsname Nitinol üblicherweise als Synonym für Nickel-Titanlegierungen genutzt. Neben Legierungen auf Basis von Nickel-Titan gibt es weitere Legierungen mit einem sogenannten Formgedächtnis. Beispiele hierfür sind z.B. kupferbasierte oder eisenbasierte Legierungen. Aufgrund besonderer Eigenschaften haben sich in der Industrie die Nickel-Titanlegierungen gegenüber den andersgearteten Legierungen durchgesetzt.

Die Entwicklung von Formgedächtnislegierungen blickt auf eine lange Geschichte zurück. Bereits in den 1930er Jahren wurden die Werkstoffe mit Formgedächtnis als Gold-Cadmium-Legierung entdeckt. Während diese Entdeckung zunächst zu keiner Anwendung geführt hat, beobachteten Wissenschaftler diesen Effekt, bis rund 30 Jahre später die Nickel-Titanlegierung erfunden wurde.

In welchen Branchen finden sich Formgedächtnislegierungen?

Auf der Suche nach einem Hochtemperaturwerkstoff wurde die Nickel-Titanlegierung das erste Mal in den Labors des amerikanischen Militärs gefunden. Die Entwicklung der ersten Anwendungen von Nickel-Titanlegierungen fand hingegen im Bereich der Medizintechnik statt. Mittlerweile sind Nickel-Titanlegierungen auf dem Markt der Medizintechnik bereits seit rund 25 Jahren etabliert.

Seit einigen Jahren erschließen Formgedächtnislegierungen und insbesondere Nickel-Titanlegierungen sich darauf aufbauend viele weitere Märkte. Heute finden sich Formgedächtnis-legierungen in vielerlei unterschiedlichen Anwendungen. Die wohl berühmtesten Anwendungen von Formgedächtnislegierungen finden sich in der Medizintechnik.

Dabei handelt es sich um den sogenannten Stent, Zahnspangen-Drähte und Wurzelkanalfeilen.

Wie werden Formgedächtnislegierungen charakterisiert?

Wenn Sie den Formgedächtniseffekt beobachten, dann spielt die Umgebungs- bzw. Betriebstemperatur eine wesentliche Rolle.Denn je nachdem, wie diese sich im Vergleich zu den Eigenschaften der Legierung des FG-Elements verhält, können Sie hauptsächlich zwei verschiedene Effekte beobachten:

Diese Effekte sind zum einen der extrinsische Zweiwegeffekt und zum anderen die so genannte Superelastizität. Bei beiden Effekten handelt es sich physikalisch betrachtet um eine Phasenumwandlung innerhalb des Materials. Diese ist reversibel und durch eine diffusionslose Scherung des Kristallgitters

gekennzeichnet. Die Umwandlung findet zwischen einer Tieftemperaturphase und einer Hochtemperaturphase statt. Die Tieftemperaturphase wird als Martensit, die Hochtemperaturphase als Austenit bezeichnet.

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Wie funktionieren Formgedächtnislegierungen?

Formgedächtnislegierungen funktionieren über eine sogenannte martensitische Phasenumwandlung, wie sie beispielsweise auch aus Stahlwerkstoffen bekannt ist. Im Rahmen dieser Phasenumwandlung gibt es verschiedene Kristallstrukturen. Für Formgedächtnislegierungen sind der Martensit sowie der Austenit von Bedeutung, deren Eigenschaften auch die Nickel-Titanlegierungen maßgeblich prägen. 

Bei Formgedächtnislegierungen vollzieht sich eine Festkörper-Phasenumwandlung. Phasenumwandlungen an sich sind in erster Linie bei Wasser bekannt: Wenn Wasser gefriert, wird es zu Eis; wenn Wasser verdampft, wird es zu Gas. Es vollzieht sich eine Phasenumwandlung. Dies lässt sich auf Formgedächtnislegierungen übertragen, jedoch bleiben die Phasen bei Nickel-Titan beide fest. Die eigentliche Phasenumwandlung geschieht im Inneren des Metalls durch Zuführen oder durch Reduktion der Temperatur.

Festkörper-Phasenumwandlung von Formgedächtnislegierungen

In der Praxis sieht die Phasenumwandlung wie folgt aus: Ein Draht bestehend aus einer Formgedächtnislegierung kann bei Raumtemperatur z.B. verformt, verbogen oder zusammengeknüllt werden. Wird der Draht daraufhin über eine ganz bestimmte Temperatur erwärmt, setzt sich das Formgedächtnis in Kraft, und er erinnert sich automatisch an seine alte Form zurück, die er daraufhin wieder annimmt. Durch die genaue Zusammensetzung der jeweiligen Legierung sowie durch den Herstellungsprozess kann individuell definiert werden, bei welchen Temperaturen das Material welche spezifische Form annimmt. Auf diese Weise kann ein gerader Draht beispielsweise ein gerader Draht bleiben. Andererseits kann man während des Herstellungsprozesses bestimmten, dass der Draht eine Büroklammer oder eine Feder sein soll.

Superelastizität am Beispiel des Stents

Um minimal-invasiv implantiert zu werden muss der Stent – das Drahtgeflecht aus Nickel-Titan – zunächst in einen sehr kleinen Kathederschlauch integriert werden. Während viele andere Bauteile diese Ausprägung der Kompression nicht überstehen würden, lässt die Superelastizität der Nickel-Titanlegierung diese starke Verformung zu. Um den Stent, welcher später im menschlichen Körper seine Aufgabe erfüllen muss, im Katheder zu platzieren, kommt folglich die Superelastizität zum Einsatz. Sobald die Katheder-Hülle schließlich zurückgezogen wird, verlässt der Stent den Katheder und expandiert von selbst. Auf Grund dieses Vorgangs wird bei dieser Anwendung der Formgedächtnislegierung auch von einem selbstexpandieren Stent gesprochen.

Welche Vorteile bieten Formgedächtnislegierungen?

Im Gegensatz zu normalen Strukturwerkstoffen sind Formgedächtnislegierungen Funktionswerkstoffe. Diese sind in der Lage, Funktionen innerhalb ihrer Struktur zu integrieren und damit technische Systeme zu ersetzen. Aus diesem Grund konkurrieren Formgedächtnislegierungen mit dem aktuellen Technikstandard explizit mit Servoantrieben, Hubmagneten oder Piezoaktoren.

Im Vergleich zu diesen Technologien haben Formgedächtnislegierungen entscheidende Vorteile: Sie sind kleiner und leichter, da weniger Materialaufwand für die gleiche Leistung nötig ist. Formgedächtnislegierungen vereinfachen auf diese Weise technologische Systeme und Anwendungen.

Formgedächtnislegierungen als effektive Alternative

Im Rahmen einer immer komplizierter werdenden technologischen Welt bieten Formgedächtnislegierungen eine vergleichsweise einfache Alternative für Entwickler und Ingenieure. Der Einsatz von Formgedächtnislegierungen ermöglicht neue Wege und Optimierungen, welche mit den ursprünglichen Technologien kaum möglich wären. In der Automobilindustrie tragen Formgedächtnislegierungen zu einer nachhaltigeren Mobilität bei geräuschloser und platzsparender Anwendung bei.

Ein Beispiel: das Thermostatventil

Als konkretes Beispiel ist an dieser Stelle das Thermostatventil zu nennen. Dieses hat die Aufgabe, Fluidkreisläufe zu regeln und zu steuern. Hitze muss auf diese Weise von dem Motor wegtransportiert werden und an anderer Stelle, in der Fahrgastzelle, für Wärme sorgen. In der Vergangenheit wurden Thermostatventile mit Wachsdehnstoffelementen abgebildet. Ein Wachsdehnstoff besteht auf einem Paraffinwachs, welcher in einer metallischen Hülle eingebaut ist. Innerhalb dieser Hülle dehnt sich je nach Temperatur der Paraffinwachs aus und aktiviert im weiteren Verlauf die Übertragung der Kraft.

Durch den komplexen Aufbau ist das Wachsdehnstoffelement vergleichsweise langsam und deutlich schwerer als ein FGL-Element. In einem modernen Auto bedeuten ein langsamer Schaltvorgang und ein schweres Bauteil einen erheblichen Nachteil für Leistung und Funktionalität.

Formgedächtnislegierungen substituieren Wachsdehnstoffelemente 1:1. Dabei sind sie in der Regel bis zu 90% leichter als die früher verwendeten Elemente und gleichzeitig bis zu zehnmal schneller.

Das Schaltmaterial ist das Element selbst und kann auf diese Weise direkt im Kühlkreislauf platziert werden.

Formgedächtnislegierungen bieten durch ihre besonderen Eigenschaften entscheidende Vorteile gegenüber herkömmlichen, technologiebasierten Lösungen in unterschiedlichen Branchen und spielen besonders im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen eine entscheidende Rolle.